Gefühlte Schutzwirkung versus statistische Schutzwirkung
Verfasst: Di Okt 16, 2012 10:32 am
Ich bin auch der Meinung, dass persönliche Erfahrungen und das damit zusammenhängende Gefühl u.U. zutreffender sein kann als Statistiken, die ja möglicherweise auf einen selber nicht direkt zutreffen oder irgendwelche Fehler beinhalten. Ich finde aber, auch das kann und sollte man versuchen zu analysieren.alterfalter2 hat geschrieben: Beim PKW Unfall bin ich über die Kühlerhaube im Salto - das Brompton war schrottreif, beim LKW Unfall vom Laster auf die Straßenmitte gedonnert worden, der wie wild aus einer Ausfahrt herausgeschossen kam. Wäre da ein Auto quergefahren, könnte ich heute nicht so schöne postings schreiben.
Wenn ich auf dem Radweg mit geringer Geschwindigkeit rumtuckere hab ich da nicht so das Gefühl gefährdet zu sein, mag die Statistik auch sagen, dass ich ggf. an der nächsten Einfahrt von einem LKW erfasst werde - hier hab ich das Gefühl, dass ich den in jedem Fall ja vorher sehen würde und dann eben nicht im toten Winkel drüberfahre oder dem zu nahe käme. Wenn ich so unterwegs bin, dann würde ich sowieso wegen der sehr geringen Gefährdung keinen Helm nötig finden.
Betrachte wir also mal gefährlichere Alltags-Situation. Für mich erscheint es am gefährlichsten, wenn ich auf dem Radweg mit ca 25-30 km/h fahre (fahr ich schneller, wechsel ich eher auf die Straße).
Am ehesten werden Türen geöfnet, jemand springt raus, ein verträumter Fusgänger meandert in die Radwege, ein Hund läuft in die Speichen, oder ein PKW kommt aus der Ausfahrt geschossen (LKWs fahren da meistens langsamer raus). Dann macht man vermutlich einen Abgang vorne übers Rad. Ich hab dabei das Gefühl, auch einen PKW dabei "überwinden" zu können, d.h. also Abgang über das Auto. Ein Faceplant mit dem Schädel an die Dachkante würde mir gefühlt wohl nicht so leicht passieren. Nach dem Hinterniss würde ich mich abrollen. Dabei würde mich ein Helm wohl behindern! Das ist auch wohl der Hauptgrund, warum ich mich damit latent unsicher fühle. Auch den ganz schnellen Schulterblick behindert ein Helm nach meinem Gefühl, zumindest minimal, und auch die Geräuschortung empfinde ich als leicht reduziert. Schützenswert wären dagegen die Hände und die Schulter (fürs Abrollen). Das wäre bei mir also die erste Maßnahme. Und die Beine kriegen u.U. leicht einen ab z.B.wegen Kollision mit dem Lenker, da würde ein Schutz aber schwierig sein und auch stören.
Für die statistisch wahrscheinlichsten schwerwiegenden Unfälle, die überwiegend durch Kollision mit LKW resultieren, taugen Fahrradhelme wohl kaum. Da knall man so massiv gegen oder wird überrollt, dass eine Schutzwirklung durch einen Helm kaum gegeben ist. Das gibt u.U. auch Ansatzpunkte, warum vielleicht bei schweren Unfällen die Helme in Statistiken keine Schutzwirkung zeigen, insbesondere in den erfassten Todesopfern oder auch bei den Erhebungen in Krankenhäusern, unter Umständen aber doch bei vielen leichten Unfällen schützen, die in den Statistiken ja gar nicht erfasst werden. Das halte ich zumindest für denkbar und wäre auch plausibel.
Bei Radrennen z.B. MTB hab ich andere Situation, z.B. steiles verblocktes Gelände, öfter mal ausgewaschene (trockenligende) Wasserwege mit Felsen (z.B. typisch beim MTB auf La Goumera/Teneriffa oder auch Gardasee). Da ist das schwierig mit Abrollen. Die wahrscheinlichste Unfallsituation ist in Bergabsituationen ein Überschlag nach vorne, den direkten Faceplant kann man bei niedriger Geschwindigkeit evtl noch abfangen. Allerdings passiert das oft in einer Kurve und man kann seitlich gegen ein Randhindernis (Felsen oder Baum) stoßen, die oft erhöht sind. Oder Wegrutschen auf lockerem Boden, dann knallt man u.U. auch seitlich gegen einen Stein. Hier hab ich das Gefühl, der Helm sollte helfen. Auch weil der schnelle Schulterblick oder die Geräuschortung hier nicht so eine wichtige Rolle spielen, wie im Alltagsradverkehr. Deutlich wahrscheinlicher sind aber auch hier wohl Schulter- oder Schlüsselbein-Verletzungen, d.h. das sollte man da dann mit schützen.
Worauf ich hinaus will: die individuelle Fahrsituation, also die Strecke, Umfeld, Reaktionsverhalten etc kann durchaus so sein, dass der Helm in solchen Situationen möglicherweise doch ein nützliches Maß erreicht - wobei das für die anderen Fälle des Alltagsradelns dann offensichtlich bedeutet, dass der Helm in diesen dann sogar stärker gefährdet, denn die Statistik zeigt ja in der Gesamtbilanz keinen Schutzeffekt.
Die Geasamtbilanz
Wie dem auch sei gilt: selbst wenn der Fahrradhelm alle Schädelverletzungen 100% verhindern würde, würde seine prohibitorische Wirkung auf die Radfahrerquote in der gesundheitlichen Gesamtbilanz der Gesellschaft bei weitem gravierendere, negative Folgen haben.
All das halte ich auch nicht für stittig und ich vermute auch Til oder Patrick werden das so sehen.
Strittig ist wohl nur, ob auch schon lediglich durch das Tragen des Helmes die Stimmung so beeinflusst wird, dass weniger Menschen Radfahren.
Statistisch besehen muss man das eindeutig bejahren, wir wissen ja, dass mit 5% mehr Helmträgern 4% weniger Menschen radfahren. Das mag den ein oder anderen wundern oder irritieren, ist aber erstmal ein Fakt. Ob es dabei einen ursächlichen Zusammenhang gibt, ist natürlich ungewiss, aber aufgrund der Vielzahl der dies bekräftigender Erhebungen recht wahrscheinlich. Das liegt aber wohl auch daran, dass Helmträger auch sonst Einfluss nehmen auf die Radfahrstimmung, also z.B. auf ihre Kinder einwirken einen Helm zu tragen, sowie auf Freunde oder deren Kinder, in Userforen wie hier usw. Ausserdem darf man nicht unterschätzen, welche Wirkung durch Vorbild entsteht.
Wer also für sich entscheidet, einen Helm tragen zu wollen, sollte sich zumindest über diese genannten Effekte klar sein und das Helmtragen nicht auch noch weiterempfehlen oder gar andere dahingehend bedrängen - insbesondere nicht Kinder (wie das die obigen "Propagandavideos" tun)! Das halte ich für extrem wichtig.
Interessant ist hierzu ja auch, dass in Umfragen in Deutschland rund 27% angeben, Helmträger zu sein, in Zählungen auf der Straße ist die Helmquote aber viel niedriger. Nun könnte es sein, dass Helmträger entsprechend weniger Fahradkilometer zurücklegen. Oder aber, was wohl hinzukommt, haben viele ein schlechtes Gewissen bei dieser Frage und geben tendeziell lieber eine bestätigende Antwort.
Ähnliches Phänomen haben wir ja auch bei Umfragen zur Zahl der Sexualpartner, um mal einen kleinen Exkurs zu machen, da geben Frauen deutlich weniger und Männer dagegen deutlich mehr an, als es den Tatsachen entsprechen kann